Wochenende in Thüringen: Risse im Idyll

Bei einem Ausflug nach Thüringen sind die Zeichen rechter Einstellungen nicht zu übersehen. Dabei ist es so schön dort.

Die Oberweißbacher Berg- und Schwarzatalbahn im Thüringer Wald.

Wo die Welt noch in Ordnung zu sein scheint: der Thüringer Wald Foto: Steve Bauerschmid/imago

Ein Wochenende in Thüringen, ein großes Haus, in das alle Freun­d:in­nen reinpassen. Sie kommen angereist aus Hamburg, Berlin, Frankfurt am Main, Leipzig, London und Boulder. Sie haben gemeinsam was mit Medien studiert, in Magdeburg, vor vielen Jahren. Heute arbeiten sie für Pharmaunternehmen, im öffentlichen Dienst, bei einer NGO, in der IT-Branche, als Journalist:innen. Manche von ihnen sind in Ostdeutschland aufgewachsen, andere im Westen. Nachwendekinder allesamt.

Das Haus in dem kleinen Dorf am Rande des Thüringer Walds war ein Zufallsfund, ein Glücksgriff. Es hat eine Terrasse und einen Hühnerstall, nebenan wohnen Schafe und auf dem Hügel oberhalb grasen zwei Pferde. Der Frühling ist eingeschlagen und hat alles zum Explodieren gebracht, in gelb und grün und weiß, unter azurblauem Himmel.

Spaziergang am Samstagmorgen, zum Dorfkern, zum Schwarzen Brett. Schauen, was so geht. In Brandenburg habe ich es schon oft erlebt, dass dort wenig oder gar nichts steht. Aber hier nicht, hier gibt es das Yoga-Angebot „Knickknack“ für Senior:innen, vor kurzem hat ein Osterfest stattgefunden und die Kirche lädt wöchentlich zu Kaffee und Kuchen ein. Ich laufe an einem Auto vorbei, am Rückspiegel hängt ein Wimpel: „Ostdeutschland – Heimatliebe“, in altdeutscher Schrift. Schwarz- Weiß-Rot.

Spalt zwischen Auge und Herz

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Am Mittag brechen wir auf zu einem Ausflug. Die Landschaft zieht an mir vorbei, sie sieht aus wie ein Windows-Hintergrund. Dazwischen Dörfer, wo die Welt dem Anschein nach noch in Ordnung ist. Jedes Dach scheint neu gedeckt, die Fassaden sind frisch gestrichen, überall Gemüsegärten und Familienautos im Carport. Sind das die blühenden Landschaften? Wir passieren ein Ortsschild. Daneben ist ein kleiner Galgen aufgestellt, an ihm hängt eine Ampel, mühevoll gebastelt.

Wenig später parken wir die Autos und steigen um in eine altertümliche Bergbahn, die einst die Be­woh­ne­r:in­nen des kleinen Gebirges per Seilzug mit Gütern versorgt hat und heute von der Deutschen Bahn betrieben wird. Man kann mit dem Deutschlandticket damit fahren. Ich schaue in das Tal, der Blick ist weit. Rechts von mir steht ein Mann, auf seinem Arm ein Tattoo, „Freiwild“ steht darauf.

Die Risse im Idyll. Sie lassen einen Spalt entstehen zwischen dem, was mein Auge sieht und mein Herz fühlt.

Beim Abschiedsfrühstück sagt jemand: „Das Haus ist so schön und so schön groß. Vielleicht buchen wir gleich für nächstes Jahr?“ Jemand anderes erwidert: „Vielleicht warten wir lieber erst mal die Wahlen im September ab.“ Alle lachen ein bitteres Lachen. Ein hilfloses auch.

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Redakteurin und Reporterin für die wochentaz. Jahrgang 1988, Studium der Sozial- und Kulturanthropologie, Ausbildung an der Reportageschule Zeitenspiegel. Im Ressort der wochentaz zuständig für lange Lesestücke zu Gesellschaft und Politik.

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