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OB-Kandidatin in der Türkei:Aufklärung als Antriebsfeder

Ihre Eltern haben den Kampf gegen Umweltzerstörung mit dem Leben bezahlt. Auch deshalb stellt sich Emine Büyüknohutçu nun in der Türkei zur Wahl.

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Aus antalya, istanbul, 27.3.2024, 14:33  Uhr

Emine Büyüknohutçu steigt im Stadtzentrum von Antalya die Treppen eines Mehrfamilienhauses hoch. Oben bereitet sie sich einen Kaffee zu. Danach geht sie raus auf den Balkon, zündet sich eine Zigarette an, die sie zwischen den dünnen, langen Fingern mit rot lackierten Nägeln hält. Sie hat eine samtweiche Sprechstimme und wirkt zurückhaltend, aber wenn sie lacht, fühlt man die Schallwellen warm gegen die Brust prallen.

Es ist Mitte Februar, heute wird Emine Büyüknohutçu im kleinen Kreis ihre Kandidatur als Oberbürgermeisterin ankündigen. Sie will die Ermordung ihrer Eltern, bekannte Umweltaktivist*innen, aufklären und gegen Korruption kämpfen. Die Eingeladenen wird sie um Unterstützung bitten. Denn erst vor wenigen Tagen trat sie aus ihrer Partei TİP, der türkischen Arbeiterpartei, aus, kandidiert nun parteilos. Bis zu den türkischen Kommunalwahlen am 31. März, bei denen landesweit Bürgermeister, Stadt- und Provinzräte gewählt werden, sind es noch rund sechs Wochen.

Mit 39 Jahren ist Emine Büyüknohutçu eine junge Politikerin. Die in Antalya geborene und studierte Grafikerin leitet ihre eigene Werbeagentur. Seit sieben Jahren engagiert sie sich politisch, ziemlich genau seit der Ermordung ihrer Eltern. Mit ihrem Bob, den Tattoos und schwarzen Plateaustiefeln entspricht sie so gar nicht dem türkischen 08/15-Poltikertypus von männlich und über 50. Sie wirkt so, als sei sie die einzige Kandidatin in Antalya, die der alten, etablierten Parteipolitik und all den hiermit verbundenen Problemen frischen Wind einhauchen könnte. Zwar sind Frauen in der türkischen Politik keine Seltenheit, aber sie sind selten in wichtigen Positionen.

Büyüknohutçus OB-Kandidatur ist ein mutiger Schritt – laut Umfragen wird es auf ein knappes Rennen zwischen AKP und CHP hinauslaufen. Die Kandidatin hat allenfalls Außenseiterchancen. Zudem verfügt sie über keinerlei Mittel, die sie für einen Wahlkampf braucht – kein Geld, kein großes Netzwerk, keine Parteistrukturen. Getrieben ist sie vor allem von ihrem Glauben an Aufklärung und Gerechtigkeit: „Ich bin die einzige der Kandidat*innen, die einen hohen Preis für diese Stadt bezahlen musste.“

Emine Büyüknohutçu

„Ich kandidiere nicht, um zu gewinnen. Ich möchte aufzeigen, wozu politische Korruption führen kann“

Emine Büyüknohutçu ist die älteste Tochter von Aysin und Ali Ulvi Büyüknohutçu, die 2017 im Alter von 61 Jahren erschossen wurden. Das Paar setzte sich gegen die Umweltzerstörung durch Steinbruchanlagen in Finike ein. Die Vorstadt mit knapp 50.000 Ein­woh­ne­r*in­nen liegt südwestlich von Antalya. Das Alacadağ-Gebirge, wo das Haus der Familie steht, ist ein grünes Dorf nördlich vom Finike-Zentrum. Das Haus nutzten sie seit 2011 als Ferienhaus. Nach und nach zogen sie ganz dorthin, „um ihre Rente zu genießen“, erzählt die Tochter.

Ihr Vater Ali Ulvi fällt dabei früh auf, dass die Steinbruchanlage unweit ihres Hauses Wälder und Orangengärten lokaler Bauern zerstören. Er schickt Zeitungen Fotos glattrasierter Berge, tritt in Polit-Talkshows auf. 2015 bewirkt er den Betriebsstopp einer der 14 Steinbruchanlagen. Es stellt sich heraus, dass die Genehmigung für die besagte Anlage ohne Umweltverträglichkeitsprüfung erstellt wurde – ein Hinweis auf Korruption. Bevor das Urteil zum Betriebsstopp rechtskräftig wird, verklagt der Inhaber der Anlage Ali Ulvi Büyüknohutçu auf 100.000 Lira Entschädigung (damals rund 25.000 Euro). Das Gericht gibt Büyüknohutçu recht, er muss nichts zahlen. Etwa zwei Monate später, am 9. Mai 2017, wird das Paar erschossen aufgefunden.

„Ich kandidiere nicht, um zu gewinnen. Ich möchte aufzeigen, wozu politische Korruption führen kann. Es war nämlich Korruption, die meine Eltern getötet hat“, sagt Büyüknohutçu. Öffentliche Gelder würden etwa in Luxusdienstwagen für Po­li­ti­ke­r*in­nen fließen.

Im Ausgabenbericht der Stadtverwaltung von Antalya ist das zwar nicht nachlesbar, weil die einzelnen Posten nicht aufgeschlüsselt sind. Aufgelistet in dem Bericht für 2022 sind aber beispielsweise „Dienstleistungen für die Öffentlichkeit“ oder „andere allgemeine Dienste“, denen gegenüber identische und verdächtig runde Zahlen als Ausgabe angegeben sind. Das Geld, das in Dienstwagen fließt, könne an anderer Stelle gebraucht werden: „Wir werden in Studierendenwohnheime, sozialen Wohnungsbau und Krankenhäuser investieren“, sagt die Kandidatin.

Aber auch erneuerbare Energien sind Büyüknohutçu ein wichtiges Anliegen. Sie will für die Wasserversorgung Pumpen nutzen, die durch Solarenergie angetrieben werden. So könne man Wasser- und Strompreise senken. „Auch die Windkraft müssen wir überhaupt einsetzen. Das ist ein langfristiges Projekt, aber wann, wenn nicht heute? Wenn wir so weitermachen, kann man in dieser Stadt in zehn Jahren kaum noch leben.“

Davon, dass der Umweltschutz bei den Kommunalwahlen keine große Rolle spielt, lässt sich Büyüknohutçu nicht beirren. Sie möchte mit ihrem Programm vor allem das Erbe ihrer Eltern weitertragen. Wenn Büyüknohutçu von ihnen erzählt, wird ihre Stimme besonders weich. „Ich konnte nicht trauern. Keine Tränen, kein Nervenzusammenbruch, bis heute.“ Das würden nicht alle gut finden, selbst in ihrem sozialen Umfeld: „Ich höre immer wieder, dass ich den Verstand verloren hätte. Sie erwarten, dass ich zusammenbreche. Das gab ich ihnen nie, und ich weiß, dass meine Eltern stolz wären.“

Kurz nach deren Tod wird der Verdächtigte Ali Yamuç gefasst. Bei der ersten Vernehmung am Tatort erklärt dieser mündlich, dass es sich um Einbruchdiebstahl handele und er das Paar in Panik erschossen habe. Bei der ersten schriftlichen Aussage behauptet er allerdings, es sei ein Auftragsmord gewesen. Ihm habe ein Mann 50.000 Lira geboten, damit er das Paar „erledige“, weil es den Betrieb zum Stillstand gebracht habe. Erst 3.000, nach der Tat würde er die weiteren 47.000 Lira erhalten.

Kurze Zeit später berichten Medien von einem Brief, den Yamuç seiner Frau übergeben haben soll und der sich an den Inhaber einer Steinbruchanlage richtet. Darin soll er damit gedroht haben zu „reden“, wenn er den Rest seines Gelds nicht bald bekäme. Daraufhin befragt ihn die Staatsanwaltschaft erneut, beide Protokolle liegen der taz vor. Bei der zweiten Anhörung macht Yamuç widersprüchliche Aussagen: Im Brief habe er gelogen, aber sich tatsächlich mit dem Inhaber einer Steinbruchanlage unterhalten.

Etwa vier Monate nach seiner Verhaftung wird Ali Yamuç tot auf der Gefängnistoilette aufgefunden. Er habe sich erhängt. Die Ermittlungen wurden eingestellt, weil „der Täter tot“ sei. Dabei war er zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht vor Gericht erschienen, geschweige denn verurteilt. Weder seine Behauptung über einen Auftragsmord noch sein Tod waren bisher Gegenstand von Ermittlungen – für Büyüknohutçu ein Zeichen von Korruption.

Emine Büyüknohutçu findet sich plötzlich in einem Kampf gegen das Vergessen wieder. Via Social Media und Medienauftritte fordert sie eine lückenlose Aufklärung. Sie verlangt, dass der Rolle von Yamuçs Ehefrau und seiner Behauptung des Auftragsmordes gründlich nachgegangen werde. Dabei erhält sie auch Drohungen, die sie anfangs nicht ernst genommen habe. Knapp zwei Monate nach dem Mord an Ali Ulvi und Aysin Büyüknohutçu veranstaltet die Stadt Finike ein Orangenfestival, das unter anderem von den zwei Steinbruchfirmen, die Ali Yamuç als Auftraggeber beschuldigte, gesponsert wird.

Der Wahlkampf ist mühsam, oft hakt es an der praktischen Durchführung, alles dauert zu lange, nur die wenigsten scheinen klare Aufgaben zu haben

Auch Sedat Peker ist eingeladen – ein Mafiaboss, der, ehe er 2021 zum Staatsfeind Nummer eins erklärt wurde, sehr enge Beziehungen zur Politik pflegte. So machte er 2016 Wahlkampf für die AKP, indem er Wäh­le­r*in­nen der Oppositionsparteien mit Mord drohte. „Als ich Fotos von Sedat Peker auf diesem Festival sah, merkte ich, dass sie es ernst meinten. Da musste ich aufhören“, erzählt Büyüknohutçu heute.

Nun, sieben Jahre später, möchte sie in Antalya Oberbürgermeisterin werden. Unterstützt wird sie von einem kleinen Team aus freiwillig engagierten Menschen, deren Zahl sie auf 25 schätzt. Der Wahlkampf ist mühsam, oft hakt es an der praktischen Durchführung, alles dauert zu lange, nur die wenigsten scheinen klare Aufgabenbereiche zu haben. Die Menschen aus ihrem Team kennt sie entweder aus ihrer Jugend oder von ihrer alten Partei TİP. Der Mord an ihren Eltern erschütterte sehr viele Menschen, sie wollen Büyüknohutçu deshalb in ihrem Vorhaben unterstützen. Warum sie aus der TİP ausgetreten ist, möchte sie nicht detailliert begründen. Nur so viel: Es ging ihr darum, „dem sozialistischen Kampf nicht zu schaden“. Sie habe in der Partei nicht das gefunden, was sie gesucht habe.

Die politische Landschaft in der Türkei ist in zwei Lager gespalten, inzwischen zählen nur noch die CHP und AKP. In ihrem Selbstverständnis geht es dabei um die Richtung der Zukunft: Traditionen gegen Modernität, Fundamentalismus gegen Säkularität. In Antalya lösen sich CHP und AKP seit 1999 alle fünf Jahre gegenseitig ab. Der heutige CHP-Oberbürgermeister Muhittin Böcek regiert seit 2019, laut Umfragen könnte er diesmal verlieren. Viele CHP-Wähler*innen sind mit Böcek unzufrieden. Es gibt permanentes Verkehrschaos, die Busse fahren willkürlich. Das Leitungswasser ist nicht trinkbar, es gibt keine Kitaplätze, die Mieten erreichen astronomische Höhen. Die meisten Strände sind privatisiert, oft kosten sie Eintritt. Naturschutzgebiete werden bebaut, Wälder gegen Golfplätze und Steinbruchbetriebe getauscht. Viele sind bereit, trotzdem die CHP zu wählen – wegen der Sorge, dass sonst die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan an die Macht käme.

„Mich können Sie nicht konvertieren. Vielleicht reden Sie lieber mit den anderen“, sagt ein etwa 30-jähriger Mann am Duden-Park in Antalya, als er Büyüknohutçus Hand schüttelt. Es ist Ende Februar, die junge Politikerin läuft durch den vollen Park und stellt sich Menschen vor. „Ich möchte aber gerade mit Ihnen sprechen,“ entgegnet sie. Sein Kumpel sagt „Valla, ich wähle Böcek, weil ich muss. Ich habe keine andere Wahl.“ Der Nicht­konvertierbare wirkt leicht beleidigt: „Das höre ich aber zum ersten Mal …“ „Also du erzählst mir, dass es dir um die Partei geht?“, fragt Büyüknohutçu provokant. Er entgegnet: „Nein, ich bin kein Partei-Hooligan, sondern gegen die AKP. Der stärkste Kandidat gegen die AKP bekommt meine Stimme.“ Sein Freund sagt: „Ich kann mir vorstellen, für Sie zu stimmen.“ Sein Kumpel wiederholt: „Wichtig ist, dass die AKP nicht gewinnt.“

Frauen sitzen entspannt in der Sonne auf Stühlen, eine junge Frau in Jeans begrüßt sie per Handschlag

Vor allem bei Frauen scheint sie anzukommen: Kandidatin Büyüknohutçu beim Wahlkampf im Duden-Park von Antalya Foto: Hüsam Çakaloğlu

Ungefähr eine Stunde lang spaziert Emine Büyüknohutçu durch den Park und spricht Menschen an. Vor allem bei Frauen scheint sie anzukommen: „Wir machen Kitas kostenlos und bieten Berufsausbildungen für die Mütter. So erlernen Frauen einen Beruf und werden unabhängig, ohne sich Sorgen über die Kinderbetreuung zu machen“, sagt die 39-Jährige. „Wir brauchen etwas Neues“, entgegnet eine Frau. Auch andere gratulieren ihr „zu ihrem Mut“, wünschen ihr Glück und Erfolg.

Doch die Wahlkampftour an diesen Nachmittag muss früher als geplant enden: der fehlenden Broschüren wegen. Ein Problem, denn auch wenn Büyüknohutçu in umweltaktivistischen Kreisen ein Name ist und vom Mord an ihren Eltern viele wissen, ist sie beim Rundgang weitgehend unbekannt. „Ich bin gezwungen, ihnen zu sagen, dass sie mir auf Instagram folgen sollen, das wirkt so komisch. Wir beenden das jetzt und kommen wieder, wenn die Broschüren da sind.“ Dafür bräuchte sie 5.000 Tausend Lira, umgerechnet circa 150 Euro – eine Summe, über die sie derzeit nicht verfügt.

Auf dem Rückweg sprechen sie und Enes Evrensel über die Broschüren. Die Kandidatin will auch welche auf Russisch, in Antalya gäbe es viele stimmberechtigte Russ*innen, sagt sie. Wegen Russlands Krieg gegen die Ukraine sind viele russische und ukrainische Menschen in die Türkei geflohen. Auch in Antalya wohnen einige, die eingebürgert wurden. „Vielleicht sollten wir erst mal welche auf Türkisch haben“, entgegnet Enes. Beide müssen lachen.

Enes Evrensel entkommt man nicht, wenn man Emine Büyüknohutçu trifft. Der Vater von zwei Kindern arbeitet als Versicherungskaufmann. Auch wenn die zwei wie alte Freun­d*in­nen wirken, lernten sie sich erst vor Kurzem kennen, auf einer TİP-Veranstaltung. Da habe sich niemand Gedanken um ihre Sicherheit gemacht. „Sie erhielt häufiger Drohungen und es gibt große Mächte im Spiel. Ich habe mich bereit erklärt, immer und überall dabei zu sein und für ihre Sicherheit zu sorgen.“ Erfahrung in der Sicherheitsbranche habe er keine. Auch eine Waffe würde er „normalerweise“ nicht tragen. Evrensel unterstützt die Kandidatin aber auch inhaltlich und organisatorisch. Wie er die Aussichten einschätzt? „Wir werden gewinnen. Ich meine nicht den Sitz des Oberbürgermeisters, den werden wir nicht gewinnen. Aber wir werden gewinnen, indem wir vorleben, dass ein Wahlkampf kein Millionenprojekt sein muss.“

Nach dem Duden-Park fahren die beiden in eine Kanzlei von einer befreundeten Person, etwa 15 Kilometer entfernt. Büyüknohutçu soll für ein wichtiges Interview in Istanbul gebrieft werden. „Das kann alles ändern“, sagt sie. Über sie wurde bisher minimal berichtet. Diesmal wurde sie aber von dem Youtube-Kanal Babala TV mit fast fünf Millionen Abon­nen­t*in­nen eingeladen. Mit etwas Glück wird ihr Video millionenfach geklickt und der Nachteil, kein Geld zu haben, ein wenig ausgeglichen. Sie kennt die zwei Brüder, die den Kanal leiten, mit dem älteren habe sie gemeinsam ­studiert. Der ehemalige Stadtvorsitzende von TİP, der die Partei auch verlassen hat, wird sie vorbereiten.

Die Sitzung beginnt mit anderthalb Stunden Verspätung. Das Büro ist grau und weiß gestrichen, überall stehen Bücher und Vasen. Vor dem großen, dunkelbraunen Schreibtisch stehen seitlich zwei Sessel, gegenüber eine große Couch, sie sind heute alle belegt. Büyüknohutçu ist nur von Männern umgeben. Stundenlang wird viel geraucht und abstrakt über Politik geredet. Der ehemalige Stadtvorsitzende sagt: „Wir Linken machen oft den Fehler, zu sagen, dass man die Probleme nur mit der sozialistischen Revolution lösen könne, und machen uns keine Gedanken über konkrete Ansätze. Aber viele Probleme können wir auch in dem hiesigen System lösen.“

Wie soll sie Fragen beantworten, auf die sie keine Antworten hat? „Wenn du offen zugibst, dass du nicht alles wissen kannst, und unbedingt mit der Community und Ex­per­t*in­nen gemeinsam arbeiten wirst, dann hebst du dich schon hervor. Die Leute haben keinen Bock mehr auf diese ganzen Besserwisser.“ Später geht es um konkrete Themen wie Gesundheit, Mobilität, Bau- und Landwirtschaft. Einer macht eine Tonaufnahme. Er würde transkribieren, damit Emine nur zuhören und keine Notizen machen muss.

Eien junge Frau mit tätowierten Armen und hochgeschlagenem Hem fasst einen Mann an, der Kastanien grillt

Davon, dass der Umweltschutz bei den Kommunalwahlen keine große Rolle spielt, lässt sich Büyüknohutçu nicht beirren Foto: Hüsam Çakaloğlu

Einige Tage später, gut vier Wochen vor dem Wahltag, sitzen Emine und Enes auf einer grauen Eckcouch, beide schauen auf einen Bildschirm. Sie suchen einen preiswerten Mietwagen. „Ich habe 3.000 Lira auf dem Bankkonto“, sagt Emine, weniger als 100 Euro. Das könnte gerade reichen. Heute Nacht fahren sie nach Istanbul, das Interview ist morgen.

Nach längerer Suche finden sie ein Angebot und schlagen zu. Nur: Bei der Abholung bekommen sie den Wagen nicht. „Meine Kreditwürdigkeit war zu schlecht,“ sagt Büyüknohutçu, die Wirtschaftskrise würde auch ihre Werbeagentur schwer belasten. Wie sie damit umgeht? „Ich kenne das nicht anders. Auch meine Eltern kämpften schon immer ohne Geld gegen Milliarden-Unternehmen.“ Eine Freundin bietet ihr das eigene Auto an, sie sitzt am Lenker. Etwa 800 Kilometer, zu dritt. Die Schwiegermutter der Freundin habe eine Wohnung in Istanbul, in der sie eine kurze Pause machen und ein paar Stunden schlafen können.

Auf dem Weg arbeitet Büyüknohutçu in dem dunklen Auto mit dem Laptop auf dem Schoß, korrigiert Texte für ihre Broschüre, schaut sich die Website an, die vor wenigen Minuten online gegangen ist, telefoniert, schreibt Nachrichten. Sie nuckelt an ihrer E-Zigarette und liest am Handy einen Text: Das Transkript von der Vorbereitungssitzung. 12 Seiten lang soll es sein, und viel zu umständlich formuliert.

Sie liest ohne Pause

„Nicht einmal ich verstehe, was hier steht.“ Sie liest ohne Pause, als würde sie versuchen, alles auswendig zu lernen. Angekommen in Istanbul, arbeitet sie in der Küche weiter, während die anderen schlafen. „Wenn du etwas angefangen hast, dann musst du es auch zu Ende bringen“, habe ihr ihr Vater immer gesagt. „Diese Wahlen sind nur der Anfang. Wir testen unser Volumen aus. Nach den Wahlen werden wir daraufhin arbeiten, flächendeckende, parteiübergreifende Bündnisse auf die Beine zu stellen.“

Als sie in der Redaktion auf dem Campus der Nişantaşı-Universität ankommt, liegt eine schlaflose Nacht hinter ihr. Emine Büyüknohutçu sitzt in dem hinteren Büro auf einer Couch, pudert sich das Gesicht und schaut nervös hin und her. Gleich vor den Kameras spricht sie anders, als sie es sonst tut: mechanisch. Ob sie versucht, sich an den Inhalt der 12 Seiten zu erinnern? Das Gespräch dauert keine ganze Stunde, danach müssen sie zurück nach Antalya, wieder ohne Schlaf. Im Auto ist sie zuerst verdächtigt still, wird dann immer lauter. Dass diese 12 Seiten doch unmöglich gewesen seien, dass sich kaum jemand um die Arbeit kümmern würde, dass sie doch nicht alles alleine machen könne. Beschissen sei das Interview gelaufen, klagt sie. Später beruhigt sie sich.

Die Fahrt raus aus Istanbul dauert Stunden. Büyüknohutçu kümmert sich da schon wieder um Broschüre, Website und Co. Dem Verkehr der Metropole entkommen, sind die Straßen bis nach Antalya frei. Sie steckt sich Ohrhörer rein und schaut aus dem Autofenster in die dunkle Nacht. Was sie hört? „Horoskop. Der Mond wechselt bald in Fische, das ist mein Sternzeichen. Das kann richtig in die Hose gehen. Oder eben richtig gut werden.“

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