Ein Jahr nach dem Atomausstieg: Atomkraft? Vermisst die jemand?

Am 15. April 2023 gingen die letzten drei deutschen AKWs vom Netz, begleitet von Ängsten vor Blackouts und Teuerungen. Was davon ist eingetreten?

Verbotsschild einer Baustelle vor dem Kühlturm des AKW Isar 2

Ging als eines der drei letzten Atomkraftwerke in Deutschland vor einem Jahr vom Netz: AKW Isar 2 im bayerischen Essenbach Foto: Wolfgang Maria Weber/Imago

FREIBURG/BERLIN taz | Die Debatte über Atomenergie hört nicht auf. Auch weil diese allgemein als relativ klimafreundlich gilt: Im Vergleich zu Kohle- und Gaskraftwerken verursacht sie weniger CO₂-Emissionen. Selbst im IPCC-Bericht wird Kernenergie deshalb trotz ihrer Risiken als Möglichkeit erwähnt, zumindest einen kleinen Teil des Energiebedarfs emissionsarm zu decken. Als am 15. April 2023 die drei letzten deutschen Atomkraftwerke Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 vom Netz gingen, nutzten Kri­ti­ke­r:in­nen des Ausstiegs auch dieses vermeintliche Klimaschutzargument als Vehikel, um das Abschalten der nuklearen Stromerzeugung generell infrage zu stellen. Daneben gab es eine Reihe von Befürchtungen rund um die Versorgungssicherheit. Nach 12 Monaten lässt sich nun eine erste Bilanz ziehen.

Wurde der wegfallende Atomstrom durch Kohle und Gas ersetzt?

Nein. Die öffentliche Nettostromerzeugung aus fossilen Energien lag in den letzten zwölf Monaten bei 155 Milliarden Kilowattstunden (Terawattstunden, TWh). In den zwölf Monaten vor dem Atomausstieg waren es 210 TWh gewesen. Diese Zahlen hat das Fraunhofer ISE im Rahmen seiner Energy-Charts aufbereitet. Der CO₂-Wert des deutschen Strommixes, den das Umweltbundesamt für 2022 noch auf 434 Gramm pro Kilowattstunde bezifferte, ist 2023 trotz Atomausstieg auf unter 400 Gramm gesunken.

Woher kommt es, dass der Strommix in Deutschland emissionsärmer geworden ist?

Zum einen durch die erneuerbaren Energien, die binnen Jahresfrist um gut 32 TWh zulegten und damit rein von der Summe her den wegfallenden Atomstrom (29,5 TWh) kompensierten. Zugleich sank aber auch der Stromverbrauch im Land um rund 2 Prozent. Hinzu kommt die Umkehr der Exportbilanz: In den zwölf Monaten vor dem Ausstieg exportierte Deutschland per Saldo noch 21 TWh, nach dem Ausstieg betrugen die Nettoimporte 23 TWh. Deutschland deckt heute also rund 5 Prozent seines Strombedarfs durch Importe.

Welche Rolle spielt der Atomstrom aus Frankreich für Deutschland?

Natürlich bekommt Deutschland auch Strom aus Frankreich, denn es liegt im Wesen des europäischen Strommarkts, dass alle Länder mit ihren Nachbarn Strom handeln. Die Menge zu definieren, ist aber schwer, weil Deutschland auch Transitland ist – da wird manches zur Definitionsfrage. Wenn zum Beispiel Österreich Strom in Frankreich kauft, der durch Deutschland fließt, taucht dieser hierzulande in der Statistik als Import aus Frankreich und zugleich als Export nach Österreich auf. Rein physikalisch importiert Deutschland dann Atomstrom, den es selbst aber gar nicht braucht. Deswegen sollte man lieber auf den Stromhandel schauen, also darauf, in welchen Ländern Deutschland den hier verbrauchten Strom einkauft. Das war 2022 zum großen Teil Dänemark, mit Abstand folgten Norwegen, Schweden und die Niederlande.

Warum kauft Deutschland aktuell zunehmend französischen Atomstrom ein?

Weil die französischen Kraftwerke zuletzt weniger oft ausfielen als in den Jahren zuvor. So erreichte die französische Atomstromerzeugung im ersten Quartal 2024 den höchsten Stand seit drei Jahren. Dadurch fielen die Börsenpreise des Stroms in Frankreich wieder unter die deutschen Preise, was zu höherem Export nach Deutschland führte. Die Exportmuster folgen eben exakt den Strompreisen des Großhandels: Bei Dunkelflaute importiert Deutschland zumeist Strom, bei viel Wind oder viel Sonne, wenn folglich der Strompreis hierzulande niedrig ist, ist Deutschland Exporteur.

Was wurde aus der Befürchtung, dass der Atomausstieg Strom in Deutschland deutlich verteuern würde?

Der Einfluss des Atomausstiegs auf die Marktpreise ist gering, denn die Entwicklung wird von erheblich gewichtigeren Faktoren geprägt: Das Wetter hat heute durch Photovoltaik und Windkraft einen so deutlichen Einfluss auf die kurzfristigen Notierungen, dass der Wegfall der Atomkraft im Vergleich dazu untergeht. Zudem prägt auch der Gaspreis ganz erheblich den Strompreis an der Börse, weshalb dieser für Deutschland im ersten Quartal 2024 deutlich niedriger war als im ersten Quartal 2023. Mitunter versuchen Atomkraftgegner die gesunkenen Großhandelspreise an Spot- und Terminmärkten gar mit dem Atomausstieg zu begründen, doch das ist unseriös – Ursache ist schlicht der deutlich gesunkene Gaspreis, der den Einsatz der Gaskraftwerke wieder erheblich verbilligt hat.

Ist die Gefahr eines Blackouts gestiegen?

2022, als die letzten drei Atomkraftwerke noch liefen, mussten Haushalte nach Angaben aus dem Bundeswirtschaftsministerium im Schnitt 12,2 Minuten ohne Strom auskommen, der zweitniedrigste Wert seit 2006. Damals waren noch 17 AKWs am Netz. Daten für 2023 liegen noch nicht vor. Bisher gleichen Stromnetz und konventionelle Kraftwerke Schwankungen aus. Sollte über einen längeren Zeitraum weder Wind wehen noch genug Sonne scheinen, wird es eng. Denn große Stromspeicher fehlen immer noch, das Netz muss ausgebaut werden.

Stimmt es, dass große Teile der Welt auf Atomkraft setzen, während Deutschland ausgestiegen ist?

Ankündigungen zum Neubau von Reaktoren gab und gibt es in diversen Ländern zwar immer wieder, einige Projekte wurden auch realisiert. Doch in der weltweiten Bilanz konnten die neuen Atomkraftwerke gerade mal den Wegfall alter Reaktoren ersetzen. Die globale Erzeugung von Atomstrom liegt deswegen nach wie vor etwa auf dem gleichen Niveau wie schon vor 20 Jahren. Da zugleich der Stromverbrauch weltweit gestiegen ist, sank der Anteil der Atomkraft am internationalen Strommix kontinuierlich. Im Jahr 2022 lag er nur noch bei 9,2 Prozent, dem niedrigsten Wert seit 40 Jahren. Photovoltaik und Windkraft erzeugen zusammen weltweit inzwischen mehr Strom als die Atomkraft.

Wie wahrscheinlich sind neue, kleinere AKW-Typen?

Viele existieren bisher nur auf dem Papier. Experten wie Christian von Hirschhausen von der Technischen Universität Berlin erwarten marktreife Anlagen frühestens in vier Jahrzehnten. Und die meisten erzeugen Atommüll.

Was passiert mit dem bestehenden Atommüll?

Die rund 27.000 Kubikmeter hochradioaktiver Abfälle aus deutschen AKWs sollen tief in der Erde verstaut werden, wo er für Zigtausende Jahre sicher sein soll. Ein geeigneter Standort wird gesucht, er wird frühestens in 20 Jahren festliegen. Derzeit lagert der Atommüll mehrerer Jahrzehnte Betrieb an den Kraftwerken und in den Zwischenlagern Ahaus und Lubmin.

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